Neugierige Kinderaugen in Deutschland

23.08.2023: Es beeindruckt mich immer wieder, was das Projekt Namibia mit den Menschen hier so macht. Zum diesjährigen Schulbeginn lud mich die Lehrerin der 6. Klasse der Lautenbergschule, Frau Jarkusch zu einem Projekttag ein. Die Kinder hatten vor den Ferien bei der Verlosung der Eintrittskarten des Lionsclubes Suhl Zella-Mehlis für das Meeresaquarium gewonnen und bei der persönlichen Übergabe der Karten durch meine Lionsfreundin Cordula von dem Projekt erstmals erfahren. Sie schien mit wenigen Sätzen große Aufmerksamkeit erzielt zu haben, denn die Lehrerin plante nun zum Vorstellen des Projektes den gesamten Vormittag ein. Über 3 Stunden!! Als ehemalige Lehrerin dachte ich mir, wie soll ich 3 Stunden die Aufmerksamkeit der Kinder halten? Die Kinder sind ja heutzutage nicht lange begeisterungsfähig und schnell gelangweilt. Und 23 Kinder sind 23 unterschiedliche Charaktere mit 23 unterschiedlichen Erwartungen. Ehrlich gesagt hatte ich schon großen Bammel, sah mich gedanklich vor einer Klasse stehen, die sich nach 10 Minuten Fotos und Videos von afrikanischen Kindern genervt und gelangweilt abwendet. 

Deshalb bat ich meinen langjährigen Afrikabegleiter Enrico, mich an dem Tag zu begleiten und zu unterstützen. Geteiltes Leid, ist halbes Leid! Aber, das gleich vorneweg, es kam alles ganz anders und ich habe das erste Mal wieder Hoffnung geschöpft, dass unsere Kinder fernab von Tik Tok, Snap chat- und TV-Vernebelung, Lust auf "mehr" haben. Ich habe über 3 Stunden Kinder erlebt, die neugierig aufs Leben sind und das Leben und die Weltpolitik hinterfragen. 

Die Lautenbergschule ist dankenswerterweise technisch sehr gut ausgestattet mit Apple TV, i pads, großem Fernseher im Klassenraum, gutes Internet, große Leinwand in der Aula. Das machten wir uns zu nutze. 


Und eröffneten den Projekttag mit einer Live-Schaltung zu den Kindern des Kinderhauses nach Namibia. Dort ist gerade Winter und die kleinsten,zwischen 3 und 4 Jahren, saßen mit Mützen und dicken Jacken schüchtern auf ihren kleinen bunten Plastestühlchen in der fensterlosen Blechhütte, dicht an dicht. Die Schüler erhielten zu Beginn Zettel mit Namen der Kinderhaus-Kinder, lasen diesen, teilweise sehr schwierigen Namen vor, und das namibische Kind stand dazu auf und sagte: "Hallo oder good morning". Manche Namen ähneln sehr dem deutschen, zwei Kindernamen sind sogar gleich. Es gibt einen Lucas und einen Jonas im Kinderhaus und in der Schulklasse! Nach der ersten, schüchternen Vorstellungsrunde mit den Kleinsten wechselten wir zu den 5 bis 6jährigen in Namibia, die in einer anderen Hütte untergebracht sind. Hier spürte man plötzlich eine viel intensivere Dynamik zwischen den Schülern hier und den Kindern fast 11.000 km entfernt. Viel aufgeschlossener, neugieriger, man schenkte sich gegenseitig ein Lächeln. Unsere Schüler auf der Bühne der Aula sitzend, mit Blick auf die große Leinwand und die Kinder des Kinderhauses dicht vor dem Handy in die andere Welt, einer Schulaula blickend.

Genau das war mein Ziel, erst einmal eine Brücke bauen und gegenseitige Beachtung schenken, ein zartes Kennenlernen von Kindern, die unterschiedlicher nicht aufwachsen können.


Nach der Liveschaltung zeigten wir den Schülern Fotos und Videos vom Kinderhaus, von den Blechhütten, den townships und erzählten über das Leben der Kinder dort. Ich war überwältigt, wie gespannt alle zuhörten, über die vielen Fragen und die laut geäußerten Gedanken. Nur einmal Essen am Tag und manchmal auch gar nichts? Tagelang immer das gleiche essen müssen, Milipap (Maisbrei)! Und wir hier? Wie oft schmeißen wir Essen weg! Warum haben die Menschen kein Geld? Warum gehen sie nicht arbeiten? Wieso gibt es keine Arbeit?


Um den Schülern eine Vorstellung zu geben, wie groß eine Blechhütte in den townships ist, in denen 3-5 Personen leben, malten wir gemeinsam mit den Schülern auf dem Schulhof solche 3x5m oder 4x4m Hütten mit Kreide auf den Asphalt und versuchten diese wie daheim einzurichten. Man konnte es drehen und wenden wie man wollte, es war nicht genug Platz für alle Betten. Beim Aufmalen erzählte ich, daß mehrere Menschen in einem Bett schlafen, das es meistens keinen Tisch oder Schrank gibt und alle Anziehsachen in Tüten gestappelt in der Hütte liegen. Neue Fragen kamen hinzu. Was ist mit den Schulsachen, mit Spielzeug, wo ist eine Toilette, eine Dusche und und und. 

Einige Schüler empfanden dieses Leben in den kleinen Hütten fast vorstellbar und spannend. Das wunderte mich zunächst, aber beim Lauschen der Gespräche untereinander wurde mir der Grund bewusst. Es war eine schöne Vorstellung, so nahe als Familie bei einander zu sein. Ich kenne diesen Effekt aus den Wohnwagen-Urlauben. Zwei Wochen auf engstem Raum ist anfangs anstrengend, aber zum Ende hin mag man diese tiefe Nähe der Familie nicht mehr hergeben wollen.

Damit nicht 23 Schüler gleichzeitig den Schulhof blockierten, teilten wir die Schüler in 2 Gruppen. Die andere Gruppe kochte mit Enrico in der Schulküche ein Essen wie es die Kinder im Kinderhaus in Namibia oft bekommen, Milipap mit einer Art Soja-Zwiebel-Möhrensoße.



Gemeinsam wurde geschnippelt, geschält und den Erzählungen von Enrico gelauscht. "Damit die Kinder aus den townships wenigstens einmal am Tag eine warme Mahlzeit bekommen, kochen wir für Sie in unserem Kinderhaus. Am Freitag essen sich die Kinder noch mal richtig satt, weil es am Wochenende in manchen Familien nicht genug zu Essen gibt." Wieder entwickelten sich, alle eng um den Küchentisch stehend, die Fragen nach dem "warum"! Man kann an so einem Tag den Kindern nicht die Welt erklären, aber man kann ihnen an so einem Tag bewusst machen, wie gut und einfach ihr Leben doch hier ist.


Am Ende setzten sich die Schüler mit ihren Tellern und selbst Gekochten ganz spontan auf den warmen Asphalt und den aufgemalten Betten der Blechhütten. Und hier entstand kurz vor dem Ende unseres Besuches eine ganz, wahrscheinlich so vorbestimmte, Situation. Uns war die Zeit etwas davon gelaufen, einige Schüler konnten nicht mehr malen bzw. kochen und das Milipup hatte nicht für alle Schüler zum Probieren gereicht. Da übte ein Schüler einen Aufstand: "Ist ja voll unfähr!" "Ich wollte auch was essen" und steigerte sich da ein wenig rein. Und da hörte ich leise und ruhig einen anderen Schüler sagen: " Sei doch froh, Du hattest doch heute wenigstens schon was zu essen!"

Da kam in mir eine innere Freude hoch, denn genau das war meine Intention, unsere Kinder für mehr Zufriedenheit zu sensibilisieren und es zu akzeptieren und auch mal hinzunehmen, wenn man etwas nicht bekommt. 

Ich habe die Schule mit einem sehr guten Gefühl verlassen. Über 3 Stunden, fast 4 Stunden, vergingen wie im Fluge. In den über 3 Stunden hatten wir ein wenig Mathematik (berechnen der Entfernungen und Größen), Geometrie, Geschichte, Geographie, Englisch (während der Liveschaltung) und Ethik. Und über 3 Stunden sehr motivierte, disziplinierte Schüler! Man sollte mit diesen Projekt öfters in die Schulen gehen, denn so lernen auch unsere Kinder etwas von den "Kindern aus der anderen Welt".